Ein System am Limit: Die Situation in Deutschland
Medicals sind derzeit das wohl sensibelste Thema unter deutschen Privatpilotinnen und -piloten. Selbst jene, deren eigene Tauglichkeitszeugnisse aktuell nicht betroffen sind, erleben im direkten Umfeld, wie Kollegen ihr Medical verlieren oder monatelang auf Entscheidungen warten. Besonders problematisch ist dabei weniger die medizinische Bewertung an sich als vielmehr die administrative Abwicklung durch die flugmedizinische Fachabteilung des Luftfahrt-Bundesamtes.
In der Praxis berichten Betroffene von extrem langen Bearbeitungszeiten selbst bei einfachen Vorgängen, etwa Verlängerungen oder klar abgegrenzten medizinischen Fragestellungen. Der Eindruck einer Zwei-Klassen-Behandlung hat sich verfestigt: Anträge von Berufspiloten werden bevorzugt bearbeitet, während Privatpiloten regelmäßig deutlich länger warten müssen. Was für einen kurzen Übergangszeitraum nachvollziehbar sein könnte, hat sich über Jahre hinweg etabliert und wird zunehmend als strukturelles Problem wahrgenommen.
Hinzu kommt, dass Versäumnisse nicht erst kürzlich entstanden sind. Sowohl auf Ebene der Behördenleitung als auch in der politischen Aufsicht wurden über Jahre hinweg Gelegenheiten verpasst, Prozesse zu modernisieren, Personal aufzustocken oder Zuständigkeiten klarer zu regeln. Das Ergebnis ist ein System, das den Bedürfnissen der Allgemeinen Luftfahrt nicht mehr gerecht wird.
Die USA: Eigenverantwortung als Leitprinzip
Während in Deutschland über Stillstand geklagt wird, hat sich in den USA in den vergangenen Jahren eine bemerkenswerte Entwicklung vollzogen. Bereits 2017 wurde dort mit dem sogenannten BasicMed-Programm ein alternatives System eingeführt. Privatpiloten müssen seitdem nicht mehr zwingend einen Fliegerarzt aufsuchen, sondern können sich von einem ganz normalen Hausarzt untersuchen lassen. Dieser bestätigt anhand eines klar definierten Gesundheitschecks die grundlegende Flugtauglichkeit.
Das System basiert stark auf Eigenverantwortung. Piloten sind verpflichtet, relevante gesundheitliche Veränderungen selbst kritisch zu bewerten und gegebenenfalls auf das Fliegen zu verzichten. Die Erfahrungen der vergangenen Jahre zeigen, dass dieses Vertrauen offenbar gerechtfertigt ist. Es gibt keine Hinweise auf einen signifikanten Anstieg sicherheitsrelevanter Ereignisse durch medizinisch bedingte Ausfälle.
Mit dem Projekt MOSAIC ist die US-Luftfahrtbehörde noch einen Schritt weitergegangen. Neben stark vereinfachten Zulassungsstandards für leichte Luftfahrzeuge wurden auch die medizinischen Anforderungen für Sportpiloten weiter reduziert. In vielen Fällen genügt nun ein gültiger Führerschein, ohne zusätzliche medizinische Untersuchung. Einschränkungen bestehen lediglich für anspruchsvollere Betriebsarten wie Nacht- oder Instrumentenflug. Auch hier bleibt der Grundgedanke klar: Wer im Straßenverkehr als gesundheitlich geeignet gilt, dem wird diese Verantwortung grundsätzlich auch in der Luft zugetraut.
Großbritannien: Nationale Spielräume nutzen
Auch Großbritannien hat begonnen, sich von starren internationalen Vorgaben zu lösen. Für nationale Lizenzen wie die National Private Pilot Licence gelten medizinische Anforderungen, die sich stark an den Standards für Autofahrer orientieren. Damit folgt man einem ähnlichen Ansatz wie in den USA, wenn auch in einem engeren nationalen Rahmen.
Diese Regelungen zeigen, dass Sicherheit nicht zwangsläufig mit maximaler Regulierung gleichzusetzen ist. Vielmehr wird versucht, medizinische Anforderungen risikobasiert und praxisnah auszugestalten, ohne unnötige Hürden für Freizeit- und Vereinspiloten aufzubauen.
Deutschland: Eigenverantwortung existiert bereits
Bemerkenswert ist, dass in Deutschland das Prinzip der Eigenverantwortung längst Realität ist – allerdings nur in einem sehr begrenzten Segment. Piloten extrem leichter Luftsportgeräte dürfen unter bestimmten Voraussetzungen ganz ohne Medical fliegen. Die rechtliche Grundlage verpflichtet sie ausdrücklich dazu, selbst auf gesundheitliche Einschränkungen zu achten und im Zweifel auf die Ausübung ihrer Rechte zu verzichten.
Auffällig ist, dass aus diesem Bereich keine erhöhte Unfallhäufigkeit aufgrund gesundheitlicher Ursachen bekannt ist. Das spricht dafür, dass Piloten sehr wohl in der Lage sind, ihre eigene Flugtauglichkeit realistisch einzuschätzen, wenn man ihnen diesen Vertrauensvorschuss gewährt.
Europa: Vorsichtige Öffnung, zögerliche Umsetzung
Auch auf europäischer Ebene gibt es Bewegung, wenn auch deutlich langsamer. Bereits 2019 wurden im Rahmen der Light Aircraft Pilot Licence die medizinischen Anforderungen reduziert. Gleichzeitig wurde den Mitgliedsstaaten die Möglichkeit eingeräumt, medizinische Untersuchungen für diese Lizenz auch durch Allgemeinmediziner durchführen zu lassen. Voraussetzung ist lediglich der Zugriff auf vollständige medizinische Unterlagen des Bewerbers.
Trotz dieser klaren rechtlichen Grundlage nutzt bislang kein europäischer Staat diesen Spielraum vollständig aus. Dabei wären die technischen Voraussetzungen, etwa durch elektronische Patientenakten, vielerorts längst gegeben. Die Zurückhaltung wirkt zunehmend schwer nachvollziehbar, insbesondere im Vergleich zu den pragmatischen Lösungen außerhalb Europas.
Die Rolle der ICAO: Internationale Grenzen der Reform
Ein wesentlicher Hemmschuh für tiefgreifende Reformen bleibt die internationale Ebene. Die Internationale Zivilluftfahrtorganisation hält weiterhin an strikten medizinischen Standards fest. Versuche, alternative Modelle wie BasicMed oder MOSAIC international zu etablieren, sind bislang gescheitert. Für viele Staaten besteht offenbar kein Interesse, von den bestehenden Regelwerken abzuweichen.
Damit bleibt für Privatpiloten, die weltweit uneingeschränkt fliegen möchten, das klassische ICAO-konforme Medical auf absehbare Zeit unverzichtbar. Umfragen zeigen, dass ein erheblicher Teil der Piloten genau diesen internationalen Handlungsspielraum erhalten möchte – trotz der damit verbundenen Hürden.
Wohin die Reise gehen könnte
Die Zukunft wird voraussichtlich zweigleisig verlaufen. Einerseits wächst der Bedarf an reformierten, praxisnahen Medicals, die auf Eigenverantwortung setzen und nationale sowie regionale Besonderheiten berücksichtigen. Andererseits wird es weiterhin das klassische ICAO-Medical geben müssen, allerdings idealerweise ohne die zusätzlichen bürokratischen Belastungen, die insbesondere in Deutschland als überzogen empfunden werden.
Entscheidend wird sein, ob Politik und Verwaltung bereit sind, den internationalen Erfahrungen zu folgen und bestehende Spielräume konsequent zu nutzen. Die Beispiele aus den USA, Großbritannien und sogar aus einzelnen Bereichen des deutschen Luftsports zeigen: Mehr Vertrauen in die Verantwortung der Piloten muss kein Sicherheitsrisiko sein – kann aber ein entscheidender Beitrag zum Erhalt einer lebendigen Allgemeinen Luftfahrt sein.
Quellverweise:
Flieger.News
